Bedeutungsvoll waren für meinen Großvater die Besuche seiner orientalistischen Fachkollegen, die regelmäßig in seinem Hause weilten. Im Sommer 1923 wurde von ihm, Bruno Meißner, Fritz Schachermeyr, Eckart Unger und Ernst Weidner die Altorientalische Gesellschaft gegründet.

Seit seinem Amtsantritt auf Hiddensee hat er sich intensiv mit der Keilschrift befaßt, die im Vorderen Orient im Zeitraum von etwa 2600 bis in die letzten Jahrzehnte v. Chr. von vielen Völkerschaften in verschiedenen Sprachen benutzt wurde. Sie ist eine Silbenschrift und umfaßt etwa achthundert Zeichen, die aus Keilen zusammengesetzt sind, die ursprünglich in weichen Ton gedrückt wurden. Häufig werden diese Zeichen auch als Idiogramme benutzt. In Verbindung mit der babylonischen Sprache wurden sie im Altertum im diplomatischen Schriftverkehr verwendet. Seit der Entzifferung der Keilschrift durch Grotefend im Jahre 1802 gewann diese Wissenschaft immer mehr an Bedeutung, nicht zuletzt durch das fast vollständig aufgefundene Gilgameschepos, das den alttestamentlichen Bericht über die Sintflut in einer früheren Darstellung enthält.

Die Anregung für die Beschäftigung mit dieser Wissenschaft gab wohl die Entdeckung des Hethiterreiches im vorigen Jahrhundert, das als dritte Großmacht neben Babylon und Ägypten bestand und in Kleinasien sein Zentrum hatte. Als Theologen interessierten ihn zunächst die Zeugnisse der Bibel über die Hethiter - so kaufte Abrahm Land von den Kindern Heth (1. Mos 23), Salomo war der Sohn einer Hethiterin (2. Samuel 11) und hielt es mit hethitischen Weibern (1. Könige 11,1) -, und er untersuchte das ethnische Verhältnis der Hethiter zu Palästina und Israel. Gefördert wurden diese Arbeiten durch die 1906 von Hugo Winkler begonnenen Ausgrabungen bei Boghazköy (Türkei), die das aus unzähligen Tontafeln bestehende Staatsarchiv der Hethiterhauptstadt Hattuscha zutage förderten, das wichtige Aufschlüsse über das in Vergessenheit geratene Großreich gab. Durch die Hethiter wurde sein Interesse auf das Mitannireich, ein Vasall der Hethiter, gelenkt, das einmal eine wichtige politische Rolle gespielt hat; es lag im nördlichen Mesopotamien im großen Euphratbogen.

Ein bei El-Amarna (Ägypten) aufgefundener Brief des Königs Tuschratta von Mitanni an den Pharao Amenophis III., ist fast der einzige Text in der Mitannisprache, die 1909 in den wesentlichen Zügen von Bork entziffert wurde und dem kaukasischen Sprachkreis angehört, der im Georgischen und Tscherkessischen noch lebendig ist. Diesem Volk, das man auch Subaräer oder Churriter nannte, galt sein Hauptinteresse. Die sprachlichen Zeugnisse dieses Volkes, das nach der Zerstörung des Reiches durch die Assyrer im 14. Jahrhundert v. Chr. zerstreut unter fremden Völkern lebte, beschränken sich in hohem Maße auf - meist in Sklavenlisten aufgeführte - Personennamen. Zur Analyse dieser Personennamen hat Großvater einen entscheidenden Beitrag geleistet. Er untersuchte die Bedeutung der Stämme der Mitanninamen und deckte deren grammatische Struktur auf. Ihm gelang die Deutung der Mitanninamen; sie sind meist Partizipialsätze mit einer religiösen Aussage. Im Grundcharakter gleichen die Mitanninamen den semitischen Eigennamen, indem sie einen Satz darstellen - anders als die indogermanischen Namen, die eine Eigenschaft seines Trägers nennen. Zu den ersten Namen die er auf Grund seiner Erkenntnisse übersetzen konnte, gehören Ar-i-Teschup "Gebend ist [der Gott] Teschup" und Ak-i-Teschup "Darbringend ist Teschup". Die erste Arbeit darüber erschien 1912 in der Orientalistischen Literaturzeitung unter dem Titel "Bemerkungen zur Bedeutung und zum Bau von Mitanninamen". Den Abschluß bildete die 1937 unter dem Titel "Namensreihen aus den Kerkuk-Tafeln" veröffentlichte Studie zum Bau von Mitanninamen. Zum 8. Band des Reallexikons der Vorgeschichte steuerte er einen Beitrag über die Mitannisprache bei, zu deren Entzifferung er durch die Analyse der Personennamen beigetragen hat. Die Personennamen - nicht nur die Mitanninamen - interessierten ihn auch in anderer Hinsicht. Durch die sprachliche Zuordnung der Personennamen konnte auf die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung geschlossen werden. Die wichtigste Arbeit auf diesem Gebiet erschien unter dem Titel "Die Personennamen in den Tontafeln von Tell Ta'annek. Eine Studie zur Ethnographie Nordpalästinas zur El-Amarna-Zeit".

Die Stellung meines Großvaters in der Erforschung der Mitanni-Sprache wird aus den Ausführungen von Ferdinand Bork über die Weltstellung des Mitanni in seinem Buch über den Mitannibrief deutlich, indem er schreibt:

Die Entzifferung des Mitannibriefes begann mit den gleichzeitig erschienen Studien von P. Jensen, Vorstudien zur Entzifferung des Mitanni, R. E. Brünnow, Die Mitanni-Sprache u. A. H. Sayce, the Language of Mitanni. Die nächste Etappe bildeteten L. Messerschmidts vortreffliche Mitanni-Studien. 1909 kam meine Mitannisprache heraus. In den folgenden Jahren begann A. Gustavs seine wichtigen und ergebnisreichen Namensforschungen, die hoffentlich ein Mitanni-Namenbuch krönen wird. Ihm verdanken wir auch eine kurze, aber gute Darstellung der Sprache im R[eallexikon der] V[orgeschichte], die auch das Schriftum in reicher Fülle bucht. In den letzten Jahren hat der Pariser Jurist und Assyriologe L. Oppenheim, der die Urkunden von Nuzi bearbeitet, Ergänzungen von der nuzischen Namensforschung aus gebracht.

Was von anderen Gelehrten an sprachlichen Erkenntnissen beigesteuert worden ist, fällt nicht schwer in die Waagschale.

In dem genannten Buch bezeichnet F. Bork die Arbeit: "Bemerkungen zum Bau und zur Bedeutung von Mitanninamen" als Grundlegend und das Buch: "Namenreihen aus den Kerkuk-Tafeln" als sehr wichtig!. Dafür spricht auch, daß diese Schrift 1972 wieder aufgelegt worden ist.

Leider ist das von F. Bork erwähnte Mitanni-Namenbuch nicht fertig gestellt worden. Die Nachkriegssorgen, der Verlust der Verbindungen zu den Fachkollegen und nicht zuletzt das Alter haben eine Fertigstellung nicht mehr möglich werden lassen. Die Materialsammlung ist dadurch - leider - den Weg alles Irdischen gegangen.

Ziel aller Sprachforschung ist die inhaltliche Erschließung der alten Texte, und so sollen hier als Probe die ersten Zeilen des Mitannibriefes wiedergegeben werden, die einen Einblick in die diplomatische Korrespondenz der Mächtigen vor mehr als 3500 Jahren geben:

Zu Nimorija [gemeint ist der Pharao Amenophis III.], Ägyptens Könige, meinem Bruder, meinem Schwiegersohne, den ich liebe und der mich liebt, spricht also Duschratta, der König von Mitanni, dein Schwiegervater, der dich liebt, dein Bruder: Mir geht es gut. Dir möge es gut gehen, meinem Schwiegersohne, deinen Frauen, deinen Söhnen, deinen Großen, deinen Pferden, deinen Wagen, deinen Kriegern, deinem Land, und allem, was dir gehört gar sehr...

und dann heißt es an einer Stelle, in der Tuschratta das Goldporträt seiner Tochter zurückfordert, das er dem Pharao zur Ansicht überlassen hatte:

... Diese (Gegenstände) alle, dieses ihr Bild aus geläutertem Golde, (nämlich) Tatu-Hepa (darstellend), sende ab, die Tochter des Dusratha, des Königs von Mitani, welche er dem Immoriia, dem Könige von Ägypten, als seine Gattin gegeben hat...

Die in dem Brief erwähnte Tatu-Hepa ist die Tochter des damals sehr mächtigen Königs Tuschratta, die er seinem Schwiegersohne, dem Pharao Amenophis III., gegen viel Gold zur Frau gegeben hat, wurde später die Gemahlin von Amenophis IV., der sich Echnaton nannte, und unter ihrem ägyptischen Namen Nofretete mit der Bedeutung "Die Schöne, die da kommt" als die schönste und interessanteste Frau des Altertums bekannt wurde, wird in diesem Brief Tatu-Hepa genannt. Dieser Name hat nach Großvaters Forschungsergebnissen die Bedeutung: "Liebend ist [die Göttin] Hepa".

Zahllose Besprechungen erschienen in den verschiedenen Fachzeitschriften. Regelmäßig arbeitete er an der von Peter Thomsen herausgegebenen Palästina-Bibliogaphie mit.

Von all diesen Forschungsarbeiten war selbst in seiner näheren Umgebung nur wenig bekannt. Man wußte wohl, daß er sich mit Keilschrift befaßte, aber welche Bedeutung diese Beschäftigung in der Fachwelt hatte, das ahnte kaum jemand. So erzählte einmal Großvaters Schwager einem Museumsdirektor in Istanbul, der ihm die neuesten Keilschriftfunde zeigte, daß sich sein Schwager nebenbei auch mit Keilschrift befasse. Als der Direktor den Namen erfuhr, soll er ausgerufen haben: "Was sagen Sie? Nebenbei? Gustavs ist eine Kapazität auf diesem Gebiet! Ich sag's ja, der Prophet gilt nichts im eigenen Land!" So hieß es später. Anfangs hatte Großvater große Schwierigkeiten gehabt, als Außenseiter seine Arbeiten zu veröffentlichen.

Ich wußte schon als Kind von seinen Keilschriftstudien. Ich kannte auch die dicken Bücher mit den vielen Keilschriftzeichen, die in seinem Bücherregal standen. Dort hatte er Jod und Pflaster aufbewahrt, um meinen zerschundenen Knie zu versorgen. Ich machte mir gelegentlich einen Spaß daraus, Keilschriftzeichen abzumalen oder mir welche auszudenken, um sie vom Großvater "entziffern" zu lassen.

Im Jahre 1912 nahm er mit Hilfe eines archäologischen Stipendiums an einer dreimonatigen Forschungsreise teil, die ihn nach Palästina und Ägypten führte. In Jerusalem arbeitete er am Deutschen Evangelischen Institut für Altertumswissenschaft. Mit Gustaf Dalman, dem Direktor des Instituts, der durch seine Arbeiten über Orte und Wege Jesu bekannt geworden ist, verband ihn eine langjährige Freundschaft. Auch Dalman, der später als Professor in Greifswald wirkte, ist Gast im Pfarrhaus auf Hiddensee gewesen.

Äußere Anerkennung erfuhr seine wissenschaftliche Arbeit Weihnachten 1921. In der Post befand sich eine riesige Rolle, die Großmutter öffnete. Eine große Urkunde kam zutage, die kein Siegel und keine Unterschrift enthielt. Großmutter ahnte nicht, daß sie eine dem Original beigelegte Kopie in Händen hielt, und glaubte, es sei ein Scherz der Verbindungsbrüder, und lachte herzlich darüber. Großvater untersuchte die Rolle näher und fand, daß es ernst gemeint war. Die Theologische Fakultät der Universittät Greifswald ernannte - wie es in der Urkunde hieß - "Herrn Arnold Gustavs, Pfarrer auf Hiddensee, den emsigen Forscher der Sprachen des biblischen Völkerkreises ehrenhalber zum Licentiaten der Theologie".

Selbst nach seinem Tode trat noch die akademische Welt an ihn heran. Er erhielt Einladungen zu den internationalen Orientalistenkongressen, die 1960 in Moskau und 1964 in Neu-Delhi stattfanden - ein Zeichen letztlich für die Bedeutung seines wissenschaftlichen Wirkens, das über seinen Tod hinausreicht...