Die Erinnerungen an meinen Großvater reichen weit zurück. Es sind natürlich vorwiegend Kindheitserinnerungen: wie ich ihm im Garten half, die Kartoffeln in die von ihm gegrabenen Pflanzlöcher zu werfen; wie ich hinter ihm herging, wenn er die Steige zwischen den Beeten trat, oder zu ihm auf den Baum kletterte, wenn er die Äpfel erntete. Ich habe ihn gut gekannt, aber mehr doch in einer Weise, wie ein Kind in die Welt der Erwachsenen hineinwächst. So weiß ich zwar vieles vom Hörensagen, aber vieles mußte ich beim Schreiben dieser Aufzeichnungen erforschen und erfragen; für vage Angaben mussten genaue Daten ermittelt werden, wobei mir Tante Wieschen und Onkel Eggert mit ihren Erinnerungen und Unterlagen aus dem Nachlass geholfen haben.

Mein Großvater wurde am 7. Januar 1875 in dem kleinen Dorf Neuenkirchen, das vor den Toren von Greifswald an der Straße nach Stralsund liegt, geboren. Sein Vater Franz war dort Lehrer und versah gleichzeitig das Küsteramt. Gemeinsam mit der fünf Jahre jüngeren Schwester Erna verlebte er seine Kindheit im Schulhaus von Neuenkirchen, einem Backsteinbau mit flachem Dach im Stil der preußischen Dienstgebäude, wo er von seinem Vater unterrichtet wurde, bis er 1884 als Sextaner in das Gymnasium zu Greifswald eintrat. Er war stets gehalten, im Hause zu helfen, denn seine Mutter Marie war leidend und meist an das Bett gebunden, von wo aus sie mit einer Glocke den Haushalt regierte. Sie war unfähig, allein die Treppe hinaufzugehen, aber mit einem Lebenswillen beseelt, der sie trotz ihrer Krankheiten, derentwegen sie nach Meinung der Auml;rzte schon längst hätte tot sein müssen, doch noch ein Alter von siebenundsechzig Jahren erreichen ließ.
Nach dem Abitur, das Großvater im Frühling 1893 bestand, widmete er sich in Greifswald dem Studium der Theologie. Er hörte nicht nur die Vorlesungen des Systematikers Hermann Cremer, er besuchte auch die Kollegs des Kirchenhistorikers Victor Schulze, dessen Famulus er wurde, er stenographierte die Predigten des "Papstes" mit, wie Cremer genannt wurde, und beschäftigte sich mit Germanistik, insbesondere mit Altsächsisch und Altnordisch. Das Sommersemester 1895 verbrachte er in Halle. Während seiner ganzen Studienzeit gehörte er der Akademischen Turnverbindung (A.T.V.) an. Er hat sich dort eifrig an den UML;bungen beteiligt, auch gerudert, an Kreisturnfesten teilgenommen und sogar auf dem VIII. Allgemeinen Deutschen Turnfest in Breslau mitgeturnt. Er sagte selber einmal, daß ihm die Turnerei sehr gut getan und ihm Gesundheit und Ausdauer gegeben habe - die ihm sein ganzes Leben treu geblieben sind. Ein großer Held im Biertrinken und Skatspielen ist er nicht gewesen, erfreute aber die Kneiptafel durch seine humoristischen und oft recht scharfen "Bierzeitungen", die stets großen Beifall fanden.
Seinem Geburtshaus gegenüber steht das Pfarrhaus von Neuenkirchen, unter dessen Dach es in den nächsten Jahren zu zwei Begegnungen kommen sollte, die sein Leben entscheidend bestimmten. Pfingsten 1896 nahm ihn der Neuenkirchener Pastor Martin Wilde für ein paar Tage mit nach Hiddensee, wo er von 1886 bis 1895 Pfarrer gewesen war. Beide logierten im Küsterhaus beim Lehrer Kyschky. Großvater gefiel die Insel so gut, daß er noch im selben Jahr für sechs Wochen nach Hiddensee fuhr. Von dort schrieb er am 18. August 1896 einen Brief an Victor Schulze, dem er diesen Aufenthalt verdankte:

Hochgeehrter Herr Professor! Es freut mich, Ihnen mitteilen zu können, daß ich mich hier in den paar Wochen schon ganz außerordentlich erholt habe, und ich kann Ihnen danken für Ihre Güte, die mir ermöglichte, so lange hier zu bleiben. Es ist wirklich ein schönes Fleckchen Erde, ganz dazu geschaffen, Körper und Geist gesunden zu lassen, so daß man mit frischer Kraft und neuem Lebensmut an die Arbeit zurückkehren kann. Großartige Schönheiten bietet das öde Eiland ja nicht. Wer die hier sucht, wird jedenfalls sehr enttäuscht sein. Freilich ist der Ausblick von den Bergen auf das Meer eigenartig schön. Aber das Schönste ist der Friede, der auf dem ganzen Ländchen liegt, und die Einfachheit und Treuherzigkeit, die allen Menschen eigen ist. Da im Gasthause kein Platz war, wohne ich bei dem Postagenten Th. Nehls in Vitte.

Seit diesem Hiddensee-Aufenthalt hegte Großvater den Wunsch, die dortige Pfarrstelle zu übernehmen, woran vorerst natürlich nicht zu denken war.
Im Oktober 1897 bestand er in Stettin das Erste Theologische Examen und hielt in der Kirche zu Kloster auf Hiddensee seine Examenspredigt über Gal. 4, 4-6. Danach ging er als Hauslehrer in das Haus der Freifrau von Rotenhan in Buchwald im Riesengebirge, wo er einen epileptischen Zögling zu unterrichten hatte. Von dort aus legte er im August 1899 das Zweite Theologische Examen ab. Wegen des Theologenüberflusses bestand zunächst überhaupt keine Aussicht auf eine Pfarrstelle; so ging er am 1. Oktober 1900 nach Bethel bei Bielefeld in die Anstalten des Pastors von Bodelschwingh, um das Aufgabengebiet der Inneren Mission aus eigener Anschauung und Mitarbeit kennenzulernen. Zunächst arbeitete er in der Pflege epileptischer Kinder und später in einer Trinkerheilanstalt.
Anfang des Jahres 1902 erhielt er eine Stelle als Hilfsprediger in Rheine (Westfalen), wo er eine Gemeinde betreute, die in der Hauptsache aus holländischen Spinnern und Webern bestand. Dann war er eine Zeitlang unter Bergleuten in Wanne bei Gelsenkirchen im Industriegebiet tätig und kam schließlich nach Rheine zurück, denn er hatte dort auch in holländischer Sprache gepredigt.
In Rheine erfuhr er 1903, daß die Pfarrstelle auf Hiddensee vakant sei. Vermutlich hat ihm Martin Wilde eine Nachricht zukommen lassen. Er bewarb sich, und die Hiddenseer wählten ihn unter drei Kandidaten zu ihrem Pastor.
Martin Wilde gratulierte mit einer Karte vom 12. August 1903:

L[ieber]. H[err]. Br[uder]! Herzlichen Glückwunsch!
Ihre Wahl ist mir eine herzliche Freude gewesen, und ich wünsche, daß Ihnen und der Gem. reicher Segen aus ihr erwachse. Wir sehen uns wohl bald wieder. Dann können wir noch manches besprechen. Meine Frau und die Kinder senden Ihnen mit mir Grüße und Glückwünsche.


Bei der Amtseinführung am 11. Oktober 1903 gab es übrigens eine kleine Panne, die nicht unerwähnt bleiben darf. Als Großvater aus der Sakristei treten wollte, ließ sich deren Tür nicht öffnen; sie war von der offenstehenden Tür des Altarraumes versperrt. "Das ist ein gutes Omen", meinte der Superintendent, "Sie werden hier auf der Insel bleiben." Und er sollte recht behalten.
Zwei Jahre später wurde das Pfarrhaus in Neuenkirchen abermals für sein Leben bedeutsam. Im Mai 1905 lernte er dort Helene Lützow kennen und verlobte sich mit ihr. Sie war die Schwester der Frau seines dortigen Amtsbruders Hans Lorenz, des Nachfolgers von Martin Wilde.
Es war eine kühle Maiennacht im Pfarrgarten von Neuenkirchen, in der Großvater seiner Auserwählten umständlich das Maximalthermometer erklärte, bis er die entscheidende Frage stellte: "Willst Du meine Frau auf Hiddensee werden?" Fragte man ihn später, warum er nicht von Hiddensee fortgegangen sei, antwortete er mit verschmitztem Lächeln: "Ich konnte nicht; das Jawort meiner Frau galt nur für Hiddensee."
Am 1. September 1905, an Großmutters zwanzigstem Geburtstag, wurde in Beetz bei Neuruppin, wo ihr Vater Pfarrer war, Hochzeit gefeiert. Die Hochzeitsreise führte sie ins Riesengebirge.
Nun gab es auch eine Pfarrfrau im Pfarrhaus auf Hiddensee, wo vorher Großvaters Schwester Erna eine Zeitlang den Haushalt geführt hatte (sie heiratete den Neuendorfer Lehrer Erich Hirchert und lebte später in Greifswald).
Seine Frau schenkte vier Kindern, Annalise (1906), genannt Wieschen, Malte (1907), Eggert (1909) und Ingeborg (1915), das Leben. Malte, mein Vater, erlernte das Tischlerhandwerk und ging nach abgeschlossener Lehre zu Professor Dell' Antonio auf die Holzschnitzschule in Bad Warmbrunn (Schlesien). Eine Reihe von geschnitzten Holzkreuzen auf dem Friedhof in Kloster sowie Kreuz und Pult in der Kapelle stammen in Entwurf und Ausführung von ihm - bis auf die geschnitzten Füllungen im Pult, die sein Freund Martin Häring gearbeitet hat.
Eggert ist als Maler und Graphiker bekannt geworden. In zahllosen Aquarellen und Holzschnitten hat er Hiddensee-Motive festgehalten. Neben den Illustrationen zu der ersten Ausgabe des Heimatbuches und der Gestaltung der "Kleinen Erinnerungen" meines Großvaters an Gerhart Hauptmann wären noch Porträts von Gerhart Hauptmann, Maxim Gorki und Anne Frank in Holzschnittechnik zu nennen. Annalise lebte im elterlichen Haus auf Hiddensee und war die fürsorgliche Tante, Großtante und Urgroßtante einer großen Schar von Nachkommen ihrer Brüder.
Großmutter war die gute Seele des Pfarrhauses. Stets war sie allen Wünschen gegenüber aufgeschlossen; selten schlug sie eine Bitte aus. Sie konnte aber auch streng und unnachgiebig sein, wenn es dazu Anlass gab. Mit ihren Gaben ergänzte sie meinen Großvater ganz wunderbar. Er hatte ein gutes Gedächtnis, ein enzyklopädisches Wissen, war scharfsinnig, ein wenig eigenwillig und leicht beunruhigt, wenn er sich oder andere in schwierige Situationen gestellt sah. Sie war musisch vielseitig talentiert, sie zeichnete gut, spielte in jungen Jahren Geige, hatte ein volle Singstimme, mit der sie die Kirche füllte, und besaß schauspielerisches Talent, von dem Elsa Wagner einmal sagte, es sei nur gut, dass sie, Großmutter, nicht zur Bühne gegangen sei - sie, Elsa Wagner, hätte dann nur in ihrem Schatten gestanden. Sie war auch eine mutige Frau, die in schwierigen Situationen einen klaren Kopf behielt. Den liebenswerten Humor hatte sie von ihrer rheinländischen Mutter geerbt.
Im Frühjahr 1920 erkrankte Großmutter schwer, so schwer, dass sich gerüchteweise schon die Nachricht von ihrem Tod verbreitete; aber sie genas wieder und kam in die merkwürdige Situation, Kondolenzbriefe auf ihren eigenen Tod lesen und beantworten zu dürfen. Großmutter ist dann erst am 4. Oktober 1963, sieben Jahre nach dem Tod ihres Mannes, im Alter von achtundsiebzig Jahren in Stralsund gestorben.

Das Leben auf der Insel war durch die bescheidenen Einkünfte eines Landpfarrers bestimmt, die auf mannigfache Weise ergänzt werden mussten. Neben der Viehhaltung wurde fleißig der Garten bestellt, der eigentlich alles für den Haushalt lieferte, was sich dort nur anbauen ließ. Mit viel Liebe und Sorgfalt wurden die Frühbeete angelegt, die jedem Gärtner Ehre gemacht hätten. Als Unterpfand bescheidenen Wohlstandes übernahm Großvater, nicht ohne stillen Seufzer, die Bienenzucht von seinem Vater, der in Vorpommern ein bekannter Imker war. So willkommen der Gewinn aus der Bienenzucht war, so kostete sie ihn Zeit, die er nur ungern von seiner wissenschaftlichen Arbeit opferte. Seinem Vater zuliebe betrieb er die Imkerei bis zu dessen Tod im Jahre 1930.
Doch was mein Großvater tat, verrichtete er mit wissenschaftlicher Gründlichkeit. Er besaß die Fähigkeit, aus Büchern angeeignetes Wissen erfolgreich in der Praxis anzuwenden. So beruhen seine Erfolge im Gartenbau auf einem ausgezeichneten Fachbuch, und auch in der Bienenzucht ließ er sich von der Literatur leiten. Ja, er wurde sogar mit Hilfe des Buches zu einem Weinkenner.
Schließlich beherbergte das Pfarrhaus Jahr für Jahr Sommergäste, die mit dem Aufblühen der Insel als Badeort mit zunehmender Zahl Hiddensee bevölkerten. Viele Erholungssuchende aus den verschiedensten Berufen und Gegenden fanden sich dort ein. Auch aus dem Ausland, besonders aus Schweden, kamen Gäste ins Haus.
Der Sommerbetrieb bedeutete jedoch nicht nur Arbeit, er brachte auch viel Abwechslung und Anregung. Die schwedischen Gäste, die übrigens in den zwanziger Jahren in großer Zahl nach Deutschland kamen, luden ihre Hiddenseer Gastgeber nach Schweden ein. Stockholm, Uppsala, Linköping, das schöne Värmland und das sagenumwobene Dalarna sahen meinen Großvater als Gast. Dort erlernte er die schwedische Sprache so vollkommen, daß er einmal seinen plötzlich erkrankten Freund und Amtsbruder in Linköping vertreten konnte und den Gottesdienst in schwedischer Sprache hielt. Er erzählte, wie ihn sein Freund vorher noch auf eine Tücke der schwedischen Sprache aufmerksam gemacht hat. Er riet ihm: "Wenn du 'den helige anden' sagst, dann mußt du bei 'anden' die Stimme von der ersten zur zweiten Silbe heben. Machst du das umgekehrt, dann heißt es nicht 'der heilige Geist', sondern 'die heilige Ente'."
Zu seiner täglichen Lektüre gehörten eine schwedische und eine dänische Tageszeitung, die auch wir Kinder der Bildgeschichten gerne ansahen. Wir ließen uns die dazugehörigen Texte übersetzen und bald buchstabierten wir uns selbst durch das Schwedische. So war das Schwedische stets irgendwie im Gespräch und so nach und nach wuchs unser Wortschatz und Auspracheübungen führten uns tiefer in die Sprache ein. Wir haben uns zwar kaum auf Schwedisch unterhalten, aber der gelegte Grund, den wir dann selbständig erweiterten, reichte aus, um auf der Ostseewoche als Dolmetscher zu arbeiten.
Als "Alter Herr" in der Akademischen Turnverbindung war er mit seinem Haus willkommenes Ziel junger Verbindungsbrüder, die von Greifswald kamen, sei es, um auf Hiddensee ihr Ziel mit dem Ruderboot erreicht zu haben, sei es, um die Fahrt mit dem Segelboot über die Ostsee fortzusetzen. So manches Mal gab schlechtes Wetter willkommene Gelegenheit, die Gastfreundschaft ein wenig länger als vorgesehen in Anspruch zu nehmen.
Großvater fühlte sich ganz als Hiddenseer, und er wird auch nicht lange als Fremder gegolten haben - sicher hat sein Plattdeutsch dazu beigetragen, bei dessen Gebrauch in eigenartiger Weise eine vertraute Atmosphäre entsteht. Er hat auch die Hiddenseer Gewohnheiten respektiert, die manchmal nicht den Konventionen auf dem Festland entsprachen. So hatte man früher die Angewohnheit, bei anderen Leuten über das Grundstück zu gehen, wenn dadurch der Weg abgekürzt werden konnte. Kam man vom Dampfer und wollte zu Dittmann, so ging man beim "Dornbusch" über den Hof und bei Heinrich Schluck über das Grundstück. Oder wollte man von der Kirche zum Hafen, nun, dann ging man eben durch den Pfarrgarten und den angrenzenden Gutsgarten. Großmutter war nicht so sehr glücklich, wenn sie jemand mit den Worten begrüßte: "Ich geh' ja so gerne hier durch den Garten, hier blüht alles so schön!" Großvater hatte nichts dagegen, wenn sein Garten als Durchgang benutzt wurde; liebte er doch selber solche Abkürzungen. Auml;hnlich verhielt es sich mit dem Gebrauch von Gegenständen. Wurde einmal ein Gerät eines Nachbarn oder anderen Partiemitgliedes benötigt, dann wurde es, ohne besonders darum zu fragen, benutzt. Es war selbstverständlich, das Gerät wieder ordentlich an Ort und Stelle zu bringen. So hat einmal Ferdinand Gau aus Grieben uns Jungen gescholten - nicht weil wir mit seinem Boot gesegelt waren, mit dem er nach Kloster gekommen war, sondern weil wir es nicht in ordentlichem Zustand verlassen hatten. Es waren überkommene Sitten, die auf einem ausgeprägten gemeinschaftlichen Denken der Hiddenseer beruhen, die sich aber im Laufe der Zeit durch den Umgang mit den Fremden abgeschliffen haben. So haben sich Sommerhausbesitzer, die mit diesen Sitten nicht vertraut waren, gelegentlich beklagt, daß die Grundstücksgrenzen nicht respektiert würden oder - ohne zu fragen - von der Pumpe Wasser geholt werde.
Im Umgang mit den Hiddenseern fand Großvater stets den richtigen Ton und nahm an allem regen Anteil; sein Interesse am Ergehen seiner Leute wurde sprichwörtlich. Man trat ihm stets freundlich und aufgeschlossen gegenüber. Ich erinnere mich an ein Telefongespräch mit einem alten Fischer wegen irgendeines sachlichen Anliegens. Er glaubte mit meinem Großvater zu sprechen, und ich war überrascht über die herzliche Antwort, die ich erhielt.

Bedeutungsvoll waren für meinen Großvater die Besuche seiner orientalistischen Fachkollegen, die regelmäßig in seinem Hause weilten. Im Sommer 1923 wurde von ihm, Bruno Meißner, Fritz Schachermeyr, Eckart Unger und Ernst Weidner die Altorientalische Gesellschaft gegründet.
Seit seinem Amtsantritt auf Hiddensee hat er sich intensiv mit der Keilschrift befaßt, die im Vorderen Orient im Zeitraum von etwa 2600 bis in die letzten Jahrzehnte v. Chr. von vielen Völkerschaften in verschiedenen Sprachen benutzt wurde. Sie ist eine Silbenschrift und umfaßt etwa achthundert Zeichen, die aus Keilen zusammengesetzt sind, die ursprünglich in weichen Ton gedrückt wurden. Häufig werden diese Zeichen auch als Idiogramme benutzt. In Verbindung mit der babylonischen Sprache wurden sie im Altertum im diplomatischen Schriftverkehr verwendet. Seit der Entzifferung der Keilschrift durch Grotefend im Jahre 1802 gewann diese Wissenschaft immer mehr an Bedeutung, nicht zuletzt durch das fast vollständig aufgefundene Gilgameschepos, das den alttestamentlichen Bericht über die Sintflut in einer früheren Darstellung enthält.
Für seine Forschungen blieb ihm fast ausschließlich Muße an den langen Winterabenden. In einem Brief2 vom 22. September 1918 an Gerhart Hauptmann äußerte er sich einmal darüber. Nachdem er von seiner durch die Lektüre des "Griechischen Frühling" geweckten Sehnsucht nach Griechenland erzählt hatte, fuhr er fort:

Vorläufig muß ich mich darauf beschränken, mich an den langen Winterabenden in Orientalia zu vertiefen, daß ich ganz darin versinke und im Frühjahr erst allmählich wieder auftauche, wenn die Gartenarbeit beginnt. So sehr ich den Sommer liebe und schätze mit der mannigfachen Anregung, die er bringt, so finde ich doch den einsamen Winter, in dem ich mit meinen Fischern und meiner Wissenschaft allein bin, immer wieder berückend schön.

Daß ihm diese Forschungsarbeit überhaupt möglich wurde, verdankte er seiner höchst wertvollen Bibliothek, um die ihn mancher Universitätsprofessor beneidet hätte. Doch auch seine Frau hat mit viel Verständnis seine Arbeit unterstützt. So hat sie die Führung der Kirchenbücher übernommen und mit bewundernswerter Geduld die Einschränkungen ertragen, die seine vielen Bücher mit sich brachten.
Aber auch auf heimatkundlichem Gebiet war er wissenschaftlich tätig. Als Nachweis frühgeschichtlicher Besiedlung der Insel brachte er eine stattliche Sammlung auf Hiddensee gefundener Steinwerkzeuge zusammen, die unter dem Namen "Steinsammlung Gustavs" in Fachkreisen bekannt geworden ist. Teile dieser Sammlung können im Heimatmuseum der Insel bewundert werden. Besonderes Interesse galt der Deutung von Orts-, Flur- und Personennamen, die auch in seinem Hiddensee-Buch eine Rolle spielen.

Einen wichtigen Platz im Leben meines Großvater nahm die Freundschaft mit Gerhart Hauptmann ein. Hauptmann kam, nachdem er 1885 erstmals, dann in den Jahren 1896 bis 1901 mehrfach auf Hiddensee weilte, erst 1916 wieder nach Hiddensee und wohnte bei Oskar Kruse auf der Lietzenburg. Es ist sicher der Anregung durch Oskar Kruse zuzuschreiben, daß Hauptmann einen Besuch bei Großvater machte, der, wie er sagte, ihm als Pfarrer der Gemeinde Hiddensee galt, da er ihn ja zunächst nicht kannte. Kurz darauf erfolgte ein Gegenbesuch bei Hauptmanns auf der Lietzenburg. Die Besuche wurden häufiger; ein Briefwechsel setzte die Verbindung fort, die im Laufe der Jahre zu einer persönlichen Freundschaft wurde.
Später hatte sich Großvater sehr darum bemüht, Hauptmanns ein Haus auf Hiddensee zu verschaffen. Bis 1919 wohnte Hauptmann noch in der Lietzenburg. Nach dem Tode von Oskar Kruse nahm sein Bruder Max mit seiner zahlreichen Familie die Burg in Anspruch, so daß er nicht mehr auf der Lietzenburg wohnen konnte. Ab 1920 nahm er im benachbarten "Haus am Meer" Quartier, wo er die Folgejahre bis 1925 wohnte; 1924 sogar mit Thomas Mann zusammen. Doch auf die Dauer sagte ihm "Haus am Meer" wegen der anderen Gäste, die noch im Haus wohnten, nicht zu. Da gab ihm der befreundete Stralsunder Regierungspräsident Dr. Haußmann den Hinweis auf das Sommerhaus von Fräulein Raeth, der Freundin des Berliner Glasfabrikanten Modler, der dieses Haus 1920 für seine Freundin erbauen ließ. So konnten Hauptmanns in den Sommern 1926 und 1927 ungestört allein dort wohnen. Aus finanziellen Gründen mußte Fräulein Raeth dieses Haus 1928 verkaufen. Hauptmann konnte sich allerdings nicht entschließen das Haus zu kaufen. Um aber zu vermeiden, daß es in fremde Hände geriet, bemühte sich Großvater darum, die Gemeinde Kloster, deren Gemeindevertretung Großvater angehörte, zum Kauf dieses Hauses zu bewegen, um es für Hauptmann zu erhalten. Doch Hauptmann war leicht unentschlossen, und so kam es, daß er 1928 das Haus nicht mehr beziehen konnte. Die Gemeinde hatte es inzwischen anderweitig vermietet. So kam es, daß die vielbeachtete Hochzeit von Benvenuto mit der Prinzessin von Schaumburg Lippe auf Rügen in dem Schloß Dwasieden bei Saßnitz stattfand. Die Hochzeit fand am 1. August 1928 statt, und Großvater vollzog die Trauung in der kleinen Schloßkapelle von Dwasieden.

Im Jahre 1929 konnte Hauptmann das Haus wieder mieten und war durch die Erfahrung vom Vorjahr jetzt zum Kauf entschlossen. Schließlich erwarb Hauptmann 1930 das Haus "Seedorn" als Sommersitz. Damit war ein Wunsch meines Großvaters, Hauptmann an die Insel zu binden, in Erfüllung gegangen; und die Gemeinde Kloster war das Sorgenkind los, denn die Mieteinnahmen deckten nicht die Unkosten, die mit dem Erwerb dieses nicht gerade sorgfältig gebauten Hauses verbunden waren. So manches Mal traf Großvater ein vorwurfsvoller Blick, wenn in der Sitzung der Gemeindevertretung die Sprache auf Haus Seedorn kam. Aber nun konnte die Gemeinde alle entstandenen Kosten auf den Kaufpreis aufschlagen und verkaufte es an Hauptmann für 32 000 RM.
Für dieses Anwesen wurde nun ein geeigneter Verwalter benötigt, und es lag nahe, Großvater zu bitten, eine geeignete Person für diese Aufgabe zu gewinnen. Doch gab es da mehrfachen Wechsel, so daß immer wieder jemand gefunden werden mußte, und so entschlossen sich die Großeltern kurzerhand, diese Aufgabe selbst in die Hand zu nehmen, als wieder einmal diese Stelle vakant war - es war im Sommer 1940. Hauptmann war überglücklich, nun sein Haus in Freundeshand zu wissen; und die Großeltern haben dieses Amt treulich bis zur UML;bernahme des Hauses als Gedenkstätte durch die Gemeinde versehen. Allerdings gestaltete sich der Weg dahin doch etwas schwierig. Zunächst mußte das Haus über die unmittelbare Nachkriegszeit gebracht werden, denn es wohnten Flüchtlinge in dem Haus. Das Inventar mußte vor Schaden und Plünderung bewahrt werden, denn so mancher Sommersitz wurde arg heimgesucht. Dann gab es immer wieder "Interessenten", deren Ambitionen nicht gut mit Hauptmann zu vereinbaren gewesen wären, die abgewiesen werden mußten.
Durch diesen Freundschaftsdienst gab es nun auch mancherlei hauswirtschaftliche Berührungen. So durften wir zum Beispiel das Heu vor dem Hause Hauptmanns ernten, und bei einer solchen Gelegenheit habe ich Hauptmann persönlich kennengelernt. Es war im Sommer 1943 - in diesem Jahr war Hauptmann das letztemal auf Hiddensee -, als ich mit meiner Tante zu Hauptmanns auf das Grundstück kam. Hauptmann begrüßte uns im Bademantel auf der Terrasse und lud mich ein, sein Arbeitszimmer zu besichtigen. Er nahm mich an die Hand und führte mich durch die Glastür in sein Zimmer. Ich wußte wohl, dass Hauptmann ein großer Dichter war, aber ich hatte mit meinen zehn Jahren keine Vorstellung davon, wieviel Bücher nun so ein großer Dichter wirklich verfasst haben könnte, und stellte angesichts der Bibliothek die kindlich naive Frage: "Haben Sie die Bücher alle geschrieben?" Hauptmann verneinte das lachend. Er hat mir seine Werke auch nicht gezeigt. Er wandte sich Dingen zu, die einem Kinde angemessen waren. Er führte mich in den Kreuzgang und erklärte mir die Bilder und ließ die Uhr schlagen, die sich damals noch an der Nordwand im Kreuzgang befand. In seinem Arbeitszimmer interessierte mich besonders der Globus mit den plastisch aufgetragenen Gebirgen. Dann führte mich Hauptmann zum Schreibtisch, wo inmitten von Papier und Büchern eine kleine Bronzeplastik stand. "Das sind Adam und Eva", erklärte er mir.
Ich bin Hauptmann später noch öfter begegnet. Einmal kam er mit seiner Frau in die Kirche, als sein Enkel Arne von meinem Großvater ein wenig im Orgelspiel unterwiesen wurde. Dann sah ich Hauptmann im Gottesdienst zur Einweihung der neuen Orgel.

Daß Großvater als international bekannter Orientalist schließlich Anerkennung und Bewunderung zuteil wurde, spielte für ihn keine Rolle. Sein Auml;ußeres verriet ihn als Geistlichen und Gelehrten nicht, wenn man ihn, mit dickem Wollschal und Schiffermütze angetan auf der Insel traf. Hauptmann nannte ihn einen "innerlich fröhlichen Menschen"14; er schätze seine Predigten, weil sie kurz und verinnerlicht waren; sie dauerten kaum länger als zehn Minuten. Ihm lag daran, in seiner Predigt das Evangelium zu verkünden und nichts anderes, denn das wollte er den Hörern seiner Predigt ans Herz legen und ins Herz reden, soweit es ihm gegeben war. Das schloß natürlich aus, sich in Kirchenpolitik zu verlieren, sich in geistreichen Einfällen zu gefallen und zu bemühen, seine vielseitige Bildung zu zeigen, oder den Kurgästen "etwas Besonderes" zu bieten. "Nein", so sagte er einmal als Rat an die Pastoren, "wenn wir auf der Kanzel stehen, so wollen wir nichts anderes geben als das Evangelium klar und schlicht, das Evangelium von der Gnade Gottes in Christo Jesu."
Denn seine Erfahrungen besonders in der Kurseelsorge bestätigten ihm, daß nur dies wirklich die Leute anzieht. Die Seelsorge an den Kurgästen ist im Laufe der Jahre zu einem wesentlichen Teil seiner amtlichen Tätigkeit geworden. Und dieser Aufgabe entsprang auch seine Angewohnheit, die Kirche alltags den ganzen Tag offenzuhalten. Er war manches Mal im Zweifel, ob er die Kirchtür nicht lieber geschlossen halten sollte, da ihm die Möglichkeit einer Beaufsichtigung fehlte; als er aber einmal an einem Nachmittag ein Ehepaar antraf, das sich in der Altarbibel seinen Trautext aufgeschlagen hatte und ihn laut las - es war der Hochzeitstag -, da hat er den Gedanken an ein Geschlossenhalten der Kirche endgültig aufgegeben.
Um 1930 hat er öfter plattdeutsch gepredigt. Er liebte seine heimatliche Mundart und sprach auch mit den Hiddenseern nur platt. Bei den Badegästen waren übrigens diese Predigten wegen ihrer Originalität recht beliebt - die Hiddenseer schätzten sie nicht allzusehr.
Am Sonntagmorgen pflegte er vor dem Gottesdienst noch einmal durch den Garten zu gehen und seine Predigt zu überdenken. Er sprach stets frei; höchstens ein kleiner Zettel mit stenographischen Notizen begleitete ihn auf die Kanzel, die er jedesmal mit Lampenfieber bestieg, worüber er selber einmal sagte: "Das gehört dazu, das muß sein, wenn aus der Predigt etwas werden soll."
Viel bewundert wurde sein immenses Wissen, das er, wie er sagte, "in Schubfächern" geordnet stets parat hatte. Margot Einstein, die Stieftochter des großen Physikers, schrieb mir einmal:

Ihren verehrten Großvater habe ich natürlich gekannt, wenn auch nicht sehr nah - ich entsinne mich aber genau an sein Aussehen. Dafür hat mein Schwager, Rudolf Kayser, ihn öfters gesehen und wohl auch mit ihm gesprochen - er erzählte mir mit großer Hochachtung von dem Wissen des 'Pastors'. (Rudolf Kayser war Herausgeber der Fischer'schen "Neuen Rundschau" und später Professor für Germanistik in Holland.)


Aber auch seinen Vorgesetzten blieb die ungewöhnliche Eigenart des Mannes auf der Pfarrstelle von Hiddensee nicht verborgen. Dem Generalsuperintendenten dedizierte er ein Exemplar der 1928 als Buch erschienen Arbeit über die Personennamen in den Tontafeln von Tell Ta'annek. Der Generalsuperintendent schrieb in seiner Antwort, daß er ihm auf die "frischen Höhen" seiner wissenschaftlichen Arbeit nicht folgen könne, sich aber über die ersprießliche Arbeit freue, die ihm an den langen Winterabenden möglich sei.
Ende 1930 erhielt er eine Berufung als Superintendent nach Hinterpommern, womit er wohl nicht gerechnet hatte. Am 13. Januar 1931 schrieb er etwas bekümmert an Hauptmann:

Ich sitze hier in einer gewissen Wehmut und kann wohl bald, wenn ich dazu fähig wäre, eine Apotheose meiner Wirksamkeit auf Hiddensee schreiben. Man will mich zum Superintendenten machen, da muß ich von Hiddensee fort. Ich kann gar nicht sagen, wie bitter schwer es mir wird, nach fast drei Jahrzehnten von dieser Insel fortzugehen, mit der ich so verwachsen bin. Aber andererseits kann ich diese Beförderung auch nicht gut ausschlagen...


Kurze Zeit darauf erlitt die jüngste Tochter, Ingeborg, einen schweren Unfall, an dessen Folgen sie am 24. Januar 1931 im blühenden Alter von fünfzehn Jahren starb. Großvater verzichtete auf die Superintendentenstelle, um das frische Grab seiner Tochter nicht allein zu lassen. Meine Großeltern sahen darin eine Fügung Gottes, auf Hiddensee zu bleiben, wo sie nun auch neben der Tochter begraben liegen.

In der Zeit des "Dritten Reiches" wurde das Leben schwieriger. Die Auseinandersetzung mit dem Naziregime fand in einer Fehde mit dem Bürgermeister ihren Ausdruck, dessen Urteil über den Pastor vernichtend war: "Der Mann ist nur noch wert, an die Wand gestellt zu werden." Sein Name wurde auf die schwarze Liste gesetzt, weil den Nazis sein Verhalten nicht gefiel, wofür folgende Geschichte ein Beispiel sein möge: Als die Judenverfolgungen zunahmen, war es plötzlich nicht mehr erlaubt, Juden zu beherbergen. Viele jüdische Erholungsuchende wurden abgewiesen. Hiddenseer erzählten mir, wie fassungslos Frauen weinten, weil sie auf einmal "so anders" behandelt wurden und sich keiner Schuld bewußt waren. Ein mehrfach schon abgewiesener Gast kam einmal zu meinem Großvater und bat um Quartier, was er ihm auch zusagte; dann fügte der Gast hinzu: "Ich bin aber Jüdin" - worauf Großvater antwortete: "Aber deshalb können Sie doch gern bei mir wohnen!"
Bei Ausbruch des Krieges schrieb er besorgt an Hauptmann:

Ja, der Krieg! Ich hätte wohl gewünscht, den Rest meines Lebens in Frieden zubringen zu können. Wieviel von menschlicher Kultur geht da wieder zugrunde!" - und fährt resigniert fort: "Doch was hilft's; man muß die Zähne zusammenbeißen...

Der Krieg und die weitere Entwicklung in Deutschland gingen weit über das Maß seiner Befürchtungen hinaus. So sanken nicht nur kulturelle Werte in Staub und Asche, sondern es wurde auch in verbrecherischer Weise menschliches Leben vernichtet. Welches Ausmaß die Herrschaft der Nazis annahm, erlebte er unmittelbar am tragischen Schicksal von Judith Auer, einer Widerstandskämpferin aus der Gruppe um Anton Saefkow. Judith Valentin, später mit Erich Auer verheiratet, war als jüdisches Waisenkind durch Dagmar Lobe, der Nichte von Hedwig Lobe, der Hausdame von Oskar Kruse, die mit der Familie Valentin befreundet war, in die Familie meiner Großeltern gekommen, wo sie, befreundet mit Annalise, vorwiegend Anfang der zwanziger Jahre oft und gern ihre Ferien verlebte. Einmal war sie längere Zeit als Haustochter im Pfarrhaus.
Im November 1944 erhielten meine Großeltern vom Moabiter Gefängnisgeistlichen, Dr. Ohm, folgende erschütternde Nachricht:

Ihre ehemalige Hausangestellte Frau Auer hat mich gebeten, Ihnen letzte Grüße und ein herzliches Lebewohl auszurichten. Sie wurde am 27. Oktober hingerichtet. In der letzten Stunde hat sie Ihrer in Dankbarkeit gedacht.


Und nach Bitte um Nähere Auskunft schrieb Dr. Ohm am 14. November 1944:

Frau Auer wurde wegen eines politischen Vergehens verurteilt. Da es sich um eine geheime Reichssache handelte, habe ich Einzelheiten nicht erfahren. Auch wo sich ihre Tochter und Schwester aufhalten, ist mir nicht bekannt. Das Bild ihrer Tochter trug sie bis zum letzten Augenblick in der Hand. Sie starb zwar nicht als evangelische Christin, aber ruhig und gefaßt, voll Vertrauen zu dem Gott, den sie die Liebe nannte. Wie gerne würde ich in den Weiten von Hiddensee all das Schreckliche vergessen, daß ich erleben muß. Vor zehn Jahren war ich einmal in Grieben.

Das Ende des Krieges und damit das Ende einer unmenschlichen Machtausübung wurde als Erlösung empfunden, wenn auch die Zukunft zunächst mit Bangigkeit gesehen wurde und das Leid an Großvater nicht vorübergegangen war - sein ältester Sohn Malte kehrte aus dem Krieg nicht zurück, er blieb verschollen. UML;ber die unmittelbare Nachkriegszeit erfahren wir etwas aus einem Brief17 an Hauptmann vom 23. März 1946:

Wir hätten gerne längst wieder geschrieben, aber es bestand ja keine Möglichkeit für die Beförderung des Briefes. Nun taucht eine solche auf, und wir wollen sogleich Gebrauch davon machen. Das Haus Seedorn ist weiterhin intakt und wird gewiß intakt bleiben. Verschiedentlich habe ich russische Offiziere im Hause herumgeführt. Die Russen schätzen Hauptmann offensichtlich als "Arbeiterdichter". Besonders interessiert war ein russischer Major, offenbar vom Generalstab, der gut deutsch sprach und mir erzählte, daß er auf der Militärakademie Stücke von Hauptmann auf deutsch gelesen habe.

Der Umgang mit den Russen bot ihm Gelegenheit, sich in der russischen Sprache zu üben, in der er bereits 1915 bei Arved Jürgensohn, einem Privatgelehrten und Esperantisten aus dem Baltikum, Unterricht nahm. Schließlich beherrschte er die russische Sprache, die er auch wissenschaftlich durchdrang, so gut, daß er nicht nur regelmäßig die abonnierte "Prawda" las, sondern auch dem etwas erstaunten Professor Steinitz erläuterte, wie eine gute Grammatik der russischen Sprache aufzubauen sei. (Professor Steinitz war der Autor der ersten Lehrbücher der russischen Sprache für den Schulgebrauch.) Für uns Enkel abonnierte Großvater die "Pionerskaja Prawda". Wir waren freilich ein wenig überfordert mit dieser Lektüre; sie blieb aber stets eine stumme Mahnung, uns mit der russischen Sprache zu befassen, denn das erwartete Großvater von uns.

Am 6. Juni 1946 schloß Gerhart Hauptmann für immer die Augen. Seinem einmal geäußerten Wunsch entsprechend fand die Beisetzung auf Hiddensee statt. Großvater gestaltete die Feierlichkeiten und hielt seinem alten Freund die Trauerrede über 2. Korinther 12,4.
Ich erinnere mich noch genau an die Beerdigung. Am Abend des 27. Juli 1946 kam die "Insel Hiddensee" mit der Trauergemeinde von Stralsund. Der Sarg war auf dem Vorschiff aufgestellt. Dann formierte sich der Trauerzug zum Haus „Seedorn". Großvater schritt voran und führte den Zug an. Mädchen in weißen Kleidern gingen vor dem Sarg einher, den Hiddenseer Männer auf ihren Schultern trugen. Haus „Seedorn" empfing seinen toten Hausherrn in wohnlicher Atmosphäre. Es war so hergerichtet, als wäre er zu Lebzeiten gerade heimgekommen. Im Kamin lag angebranntes Holz, in der Garderobe stand ein Regenschirm... Der Sarg wurde im Arbeitszimmer aufgestellt. Meine Mutter legte auf den verwaisten Schreibtisch einen Immortellenkranz, der viele Jahre hindurch erneuert wurde. Hiddenseer Männer hielten die Nacht über Ehrenwache; am frühen Morgen erfolgte dann die UML;berführung in die Kirche.
Schon lange vor Sonnenaufgang waren wir Kinder auf den Beinen und bevölkerten munter schwatzend die Kirche, um uns die Abwechslung, die die Beerdigung in den eintönigen Nachkriegssommer brachte, nicht entgehen zu lassen, bis Lehrer Berg kam und alle Kinder hinauswarf. Ich hatte Glück und konnte in der Kirche bleiben, denn ich war auf die Empore gestiegen und verbarg mich hinter der Brüstung und blieb so unbemerkt. Es war eine eindrucksvolle Feier, die sich meinen Augen darbot. Vor dem Altar stand der Sarg, der reich mit Kränzen umlegt war. Besonders in Erinnerung ist mir ein großer Hortensienkranz mit einem großen Stern in der Mitte geblieben, den vier sowjetische Offiziere vor den Sarg legten. Zuerst hielt Großvater seine Trauerrede. Neben dem Sarg stand je ein Vertreter der Universitäten Rostock und Greifswald im Talar als Ehrenwache. Ich war von dem Bild, das sich mir darbot, so beeindruckt, daß ich kaum zuhörte, was Großvater sprach. Ich horchte erst auf, als er sagte: "....daß er [Hauptmann] seine Werke nicht aus sich hervorhole, sondern daß sie ihm geschenkt würden und er nur das empfangende Medium, sei. Als ihm der erste Gedanke kam zu 'Iphigenie in Delphi', die er dann innherhalb von sechs Wochen in einem Zuge auf Hiddensee niederschrieb, sagte er zu seiner Frau: 'Es ist mir etwas übers Haus geflogen; ich glaube, es wird etwas daraus!'"
Ich war der Rede nicht gefolgt und wunderte mich, wieso die Delphine über das Haus geflogen kamen.
Als nächster sprach Superintendent Lukas aus Bergen und erinnerte an ein Jubiläum. Vor genau einundsechzig Jahren hatte Gerhart Hauptmann zum erstenmal Hiddenseer Boden betreten. Landessuperintendent Dr. Werner aus Schwerin rezitierte aus "Hanneles Himmelfahrt". Dann wurde der Sarg hinausgetragen und in die Erde gesenkt. Mein schöner Platz auf der Empore erwies sich nun als Nachteil; ich kam erst ziemlich zum Schluß aus der Kirche und sah von der Feier am Grabe nur ein undurchdringliches Menschenknäuel.
Bei der Beerdigung wurde Großvater mit einer Reihe von Mitgliedern der damaligen deutschen Verwaltung bekannt. Hervorzuheben sind die Begegnungen mit Wilhelm Pieck und Johannes R. Becher sowie Oberst Tulpanow von der sowjetischen Militäradministration. Ihr gemeinsames Anliegen war die Pflege des Nachlasses von Gerhart Hauptmann und seines literarischen Erbes.

Großvater war ehrenamtlicher Vertrauensmann für Bodenaltertümer der Insel Hiddensee, und in seine Amtszeit fällt auch der Fund eines goldenen Fingerringes - ein Ereignis, das nicht unerwähnt bleiben darf.
Am 23. Oktober 1947 wurde beim Ausheben der Baugrube auf dem Grundstück von Konrad Dinse in Vitte ein antiker Goldring gefunden. Als Großvater von dem Fund erfuhr, besichtigte er sogleich den Fundort und stellte die Begleitfunde wie Scherben und Nägel sicher, die naturgemäß unbeachtet bleiben, da sie gegenüber dem Hauptfund wertlos erscheinen. Er verfaßte einen ausführlichen Bericht an die zuständige Stelle der Landesregierung in Schwerin.

Am 1. Oktober 1948 trat Großvater dreiundsiebzigjährig in den Ruhestand. Nach genau fünfundvierzig Jahren Amtszeit hielt er nun seine Abschiedsrede:

"Das Los ist mir gefallen aufs Liebliche; mir ist eine schön Erbteil geworden" (Psalm 16,6).
Dieses Wort hat im Zusammenhang mit Hiddensee einmal eine bedeutsame Rolle in meinem Leben gespielt. Darum seien mir einige persönliche Erinnerungen in dieser Abschiedsstunde gestattet. Es ist mehr als ein halbes Jahrhundert her, daß ich meinen Fuß zuerst auf dieses Eiland setzte. Es war zu Pfingsten 1896. Ich war damals Student in den letzten Semestern. Im selben Jahr war ich im Herbst dann noch sechs köstliche Wochen auf der Insel. Es ist ja gar nicht zu beschreiben, welch paradiesische Schönheit damals der Insel zu eigen war. Es war wie mit dem Glanz eines Schmetterlingsflügels, der noch in vollem und unzerstörten Glanz leuchtet. Mit empfänglicher, jugendlicher Seele habe ich damals diese Schönheit in mich eingesogen. Vor allem hat der Blick vom Hochufer auf das weite Meer mich überwältigt. Welch ein Abbild der unendlichen Ewigkeit! Da tauchte in mir der Wunsch auf: Hier möchte ich einmal Pastor sein, zumal ich spürte, daß es sich unter den Menschen hier gut werde leben lassen. Das war freilich zunächst ein unerfüllbarer Traum.


Großvater erzählte dann von seinem Werdegang und den Umständen, die ihn nach Hiddensee geführt haben und fuhr dann fort:

So habe ich nun fünfundvierzig Jahre lang eure Kinder getauft. Habe den Kindern, wenn sie zu Konfirmanden herangewachsen waren, am Altar den Segen Gottes aufs Haupt gelegt, habe sie dann für die christliche Ehe eingesegnet. Und wie manches Mal habe ich oben auf unserem Friedhof, von dem man auf beiden Seiten das Meer sieht, euren Toten den letzten Trost der Auferstehung nachgerufen. ... Amen.

Im Ruhestand hatte Großvater Muße, ein Heimatbuch zu schreiben, wozu ihn Dr. Adler, der damalige Direktor des Stralsunder Museums, immer wieder ermuntert hat und ihm in entgegenkommender Weise die Schätze des Stralsunder Stadtarchivs zur Verfügung gestellt hatte. Dieses Buch ist dann 1952 im Hinstorff-Verlag Rostock, herausgegeben von Käthe Miethe, erschienen. Im gleichen Jahr bezog Großvater auch sein Häuschen, das er sich als Alterssitz gebaut hatte. Dort lebte er glücklich und unbeschwert, auf ein reiches Leben zurückblickend, viel besucht und bewundert von Bekannten und Unbekannten, umringt von einer zahlreichen Enkelschar, die in den Ferien stets willkommene Gäste in seinem Hause waren. Dort arbeitete er nun fast achtzigjährig an seinen kleinen Erinnerungen an Gerhart Hauptmann, deren Veröffentlichung er allerdings nicht mehr erleben sollte. Dieses Buch wurde 1962 von Gustav Erdmann im Pertermänken-Verlag Schwerin herausgegeben und hat sich auch einen großen Freundeskreis erworben. Dem Buch wurden neben Fotos und Briefen ein umfangreiches Nachwort des Herausgebers beigefügt, das auf dessen erwähnter Dissertation aufbaut, an deren Werden Großvater noch regen Anteil nahm. Im November 1952 hielt er anläßlich des neunzigsten Geburtstages des Dichters in Greifswald einen Vortrag über Gerhart Hauptmann. Auch half er noch mit Ratschlägen bei der von Gustav Erdmann gestalteten Ausstellung in der anläßlich des zehnten Todestages des Dichters am 6. Juni 1956 eröffneten Gerhart-Hauptmann- Gedächtnisstätte. Man darf wohl sagen, daß die heute international anerkannte Hauptmann-Forschung in der DDR hier einen Ursprung hat.
Am 7. Januar 1955 beging er seinen achtzigsten Geburtstag in körperlicher und geistiger Frische. Freunde und Bekannte brachten dem Jubilar ihre Glückwünsche dar. Bürgermeister Präkel gratulierte im Namen der Gemeinde und überreichte eine schöne Schale als Geschenk. Aber auch offizielle Stellen sandten ihre Glückwünsche. Große Freude herrschte über ein Glückwunschschreiben von Otto Grotewohl im Namen der Regierung der DDR, in dem es hieß:

Ich nehme gern Gelegenheit, Ihnen zu Ihrem 80. Geburtstag die Grüße und Glückwünsche der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik zu übersenden. Als einer der Freunde unseres unvergeßlichen Gerhart Hauptmann haben Sie seinen Nachlaß und sein Wirken in Kloster auf Hiddensee in liebevolle Pflege genommen und damit dem deutschen Volke einen guten Dienst erwiesen. Ich danke Ihnen an Ihrem 80. Geburtstag für Ihr zwar stilles aber bedeutsames Wirken und wünsche Ihnen noch viele Jahre Gesundheit und Wohlergehen.

Am 19. Dezember 1956 starb Großvater, nachdem er kurz zuvor an einem Altersleiden erkrankte, fast zweiundachtzigjährig im Stralsunder Krankenhaus. Zuvor legte er noch alle Einzelheiten für seine Beerdigung fest und bestimmte die Träger für seinen Sarg. Am 23. Dezember wurde er unter großer Anteilnahme der Hiddenseer zur letzten Ruhe gebettet.
Das Leben eines bemerkenswerten Mannes war vollendet, eines Mannes, der auf so vielen Gebieten zu Hause war und doch nur auf seiner geliebten Insel wirklich heimisch geworden ist, eines Mannes, auf dem ein Hauch von Gnade lag...