Einen wichtigen Platz im Leben meines Großvaters nahm die Freundschaft mit Gerhart Hauptmann ein. Hauptmann kam, nachdem er 1885 erstmals, dann in den Jahren 1896 bis 1901 mehrfach auf Hiddensee weilte, erst 1916 wieder nach Hiddensee und wohnte bei Oskar Kruse auf der Lietzenburg. Es ist sicher der Anregung durch Oskar Kruse zuzuschreiben, daß Hauptmann einen Besuch bei Großvater machte, der, wie er sagte, ihm als Pfarrer der Gemeinde Hiddensee galt, da er ihn ja zunächst nicht kannte. Kurz darauf erfolgte ein Gegenbesuch bei Hauptmanns auf der Lietzenburg. Die Besuche wurden häufiger; ein Briefwechsel setzte die Verbindung fort, die im Laufe der Jahre zu einer persönlichen Freundschaft wurde. Später hatte sich Großvater sehr darum bemüht, Hauptmanns ein Haus auf Hiddensee zu verschaffen. Bis 1919 wohnte Hauptmann noch in der Lietzenburg. Nach dem Tode von Oskar Kruse nahm sein Bruder Max mit seiner zahlreichen Familie die Burg in Anspruch, so daß er nicht mehr auf der Lietzenburg wohnen konnte. Ab 1920 nahm er im benachbarten "Haus am Meer" Quartier, wo er die Folgejahre bis 1925 wohnte; 1924 sogar mit Thomas Mann zusammen. Doch auf die Dauer sagte ihm "Haus am Meer" wegen der anderen Gäste, die noch im Haus wohnten, nicht zu. Da gab ihm der befreundete Stralsunder Regierungspräsident Dr. Haußmann den Hinweis auf das Sommerhaus von Fräulein Raeth, der Freundin des Berliner Glasfabrikanten Modler, der dieses Haus etwa 1920 für seine Freundin erbauen ließ. So konnten Hauptmanns in den Sommern 1926 und 1927 ungestört allein dort wohnen. Aus finanziellen Gründen mußte Fräulein Raeth dieses Haus 1928 verkaufen. Hauptmann konnte sich allerdings nicht entschließen das Haus zu kaufen. Um aber zu vermeiden, daß es in fremde Hände geriet, bemühte sich Großvater darum, die Gemeinde Kloster, deren Gemeindevertretung Großvater angehörte, zum Kauf dieses Hauses zu bewegen, um es für Hauptmann zu erhalten. Doch Hauptmann war leicht unentschlossen, und so kam es, daß er 1928 das Haus nicht mehr beziehen konnte. Die Gemeinde hatte es inzwischen anderweitig vermietet. So kam es, daß die vielbeachtete Hochzeit von Benvenuto mit der Prinzessin von Schaumburg Lippe auf Rügen in dem Schloß Dwasieden bei Saßnitz stattfand. Die Hochzeit fand am 1. August 1928 statt, und Großvater vollzog die Trauung in der kleinen Schloßkapelle von Dwasieden.

Im Jahre 1929 konnte Hauptmann das Haus wieder mieten und war durch die Erfahrung vom Vorjahr jetzt zum Kauf entschlossen. Schließlich erwarb Hauptmann 1930 das Haus "Seedorn" als Sommersitz. Damit war ein Wunsch meines Großvaters, Hauptmann an die Insel zu binden, in Erfüllung gegangen; und die Gemeinde Kloster war das Sorgenkind los, denn die Mieteinnahmen deckten nicht die Unkosten, die mit dem Erwerb dieses nicht gerade sorgfältig gebauten Hauses verbunden waren. So manches Mal traf Großvater ein vorwurfsvoller Blick, wenn in der Sitzung der Gemeindevertretung die Sprache auf Haus "Seedorn" kam. Aber nun konnte die Gemeinde alle entstandenen Kosten auf den Kaufpreis aufschlagen und verkaufte es an Hauptmann für 32 000 RM. Für dieses Anwesen wurde nun ein geeigneter Verwalter benötigt, und es lag nahe, Großvater zu bitten, eine geeignete Person für diese Aufgabe zu gewinnen. Doch gab es da mehrfachen Wechsel, so daß immer wieder jemand gefunden werden mußte, und so entschlossen sich die Großeltern kurzerhand, diese Aufgabe selbst in die Hand zu nehmen, als wieder einmal diese Stelle vakant war - es war im Sommer 1940. Hauptmann war überglücklich, nun sein Haus in Freundeshand zu wissen; und die Großeltern haben dieses Amt treulich bis zur Übernahme des Hauses als Gedenkstätte durch die Gemeinde versehen. Allerdings gestaltete sich der Weg dahin doch etwas schwierig. Zunächst mußte das Haus über die unmittelbare Nachkriegszeit gebracht werden, denn es wohnten Flüchtlinge in dem Haus. Das Inventar mußte vor Schaden und Plünderung bewahrt werden, denn so mancher Sommersitz wurde arg heimgesucht. Dann gab es immer wieder "Interessenten", deren Ambitionen nicht gut mit Hauptmann zu vereinbaren gewesen wären, die abgewiesen werden mußten. Durch diesen Freundschaftsdienst gab es nun auch mancherlei hauswirtschaftliche Berührungen. Bei einer solchen Gelegenheit habe ich Hauptmann persönlich kennengelernt. Es war im Sommer 1943 - in diesem Jahr war Hauptmann das letztemal auf Hiddensee -, als ich mit meiner Tante zu Hauptmanns auf das Grundstück kam. Hauptmann begrüßte uns im Bademantel auf der Terrasse und lud mich ein, sein Arbeitszimmer zu besichtigen. Er nahm mich an die Hand und führte mich durch die Glastür in sein Zimmer. Ich wußte wohl, daß Hauptmann ein großer Dichter war, aber ich hatte mit meinen zehn Jahren keine Vorstellung davon, wieviel Bücher nun so ein großer Dichter wirklich verfaßt haben könnte, und stellte angesichts der Bibliothek die kindlich naive Frage: "Haben Sie die Bücher alle geschrieben?" Hauptmann verneinte das lachend. Er hat mir seine Werke auch nicht gezeigt. Er wandte sich Dingen zu, die einem Kinde angemessen waren. Er führte mich in den Kreuzgang und erklärte mir die Bilder und ließ die Uhr schlagen, die sich damals noch an der Nordwand im Kreuzgang befand. In seinem Arbeitszimmer interessierte mich besonders der Globus mit den plastisch aufgetragenen Gebirgen. Dann führte mich Hauptmann zum Schreibtisch, wo inmitten von Papier und Büchern eine kleine Bronzeplastik stand. "Das sind Adam und Eva", erklärte er mir. Ich bin Hauptmann später noch öfter begegnet. Einmal kam er mit seiner Frau in die Kirche, als sein Enkel Arne von meinem Großvater ein wenig im Orgelspiel unterwiesen wurde. Dann sah ich Hauptmann im Gottesdienst zur Einweihung der neuen Orgel.

Arnold Lüders, ein warmer Verehrer Hauptmanns machte Großvater rechtzeitig darauf aufmerksam, daß 1935 ein halbes Jahrhundert seit des ersten Aufenthaltes Hauptmanns auf der Insel vergangen sei. Mit Unterstützung von Frau Hauptmann wurde eine Feier im kleinen Freundeskreis von neun Personen organisiert, die am 28. August 1935 mit einem feierlichen Essen im Arbeitszimmer des Dichters stattfand. Dabei hielt Großvater seinem Freunde folgende Rede1:

"Verehrter, lieber Doktor Hauptmann! Hiddensee ist ein Land der Goldenen Hochzeiten. Es vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht eine oder mehrere Goldene Hochzeiten stattfinden. Ja, einmal habe ich es erlebt, daß in einem Jahr vier Goldene Hochzeiten waren und nur eine Grüne Hochzeit. In diesem Jahre, lieber Herr Doktor, feiern Sie eine Goldene Hochzeit, die Goldene Hochzeit der Liebe und Treue zu Hiddensee".

Er wies darauf hin, daß am 29. Juli fünfzig Jahre vergangen seinen, als sich Hauptmann als Gast in das Gästebuch des alten kleinen Gasthofs von Schlieker in Kloster, der in den Regieanweisungen zum Drama Gabriel Schillings Flucht sehr naturgetreu dargestellt ist, eintrug, und daß Hauptmann seitdem immer wieder auf die Insel zurückgekehrt ist, mit der er nun seit Jahren durch sein Haus "Seedorn" fest verbunden war. Der Redner überreichte Hauptmann ein auf der Insel gefundenes Sichelmesser aus Feuerstein, das er als Symbol für die von den Steinzeitmenschen in früher Zeit geschnittenen Ernte bezeichnete und wünschte dem Dichter gleichfalls eine reiche Ernte literarischer Werke, die ihm die Insel bescheren möge, und nannte Die Versunkene Glocke als wichtigstes Werk in diesem Sinne. In seiner Rede fortfahrend meinte der Redner, daß Hauptmann in seinem Geiste noch manchens gewachsen sei, oder vielleicht noch in Schubladen liegend einmal an die Öffentlichkeit kommen werde. Immerhin hat Hiddensee wiederholt in seinen Werken eine Rolle gespielt, wie etwa die liebenswürdige Titelvignette von Schluck und Jau.

Hauptmann erwiderte diese Ansprache mit den folgenden Worten2:

"Herr Bürgermeister, Herr Pastor, meine Damen und Herren! Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, mein halbhundertjähriges Insel-Jubiläum mir ins Gedächtnis zu rufen. Wir lieben alle, Einheimische sowohl wie Gäste, die Ostseeperle Hiddensee, die so unendlich vielen Menschen im Laufe dieser verflossenen fünfzig Jahre Gesundung, Verjüngung und Freude gebracht hat. Möchte das so allgemein geliebte Eiland allen die Unbefangenheit seines eigenen Herzens bewahren und allen Liebenden die gleiche Liebe fernerhin entgegenbringen. Die Geschichte Hiddensees, während der letzten fünfzig Jahre, zu schreiben, wäre eine lohnende Aufgabe. Sie würde das Antlitz der Insel, die äußerlich immer dieselbe scheint, in einer ständigen Wandlung zeigen. Der erste Eindruck, den man von ihr empfing, war der der Weltabgeschiedenheit und Verlassenheit. Das gab ihm den grandiosen und furchtbaren Ernst unberührter Natur und dem Menschen, der in dieses Antlitz hineinblickte, jene mystische Erschütterung, die mit der Erkenntnis von den Grenzen seines Wesens und der menschlichen Kultur überhaupt verbunden ist. Ich habe ein Dichtwerk verfaßt, es heißt 'Gabriel Schillings Flucht'. Als ich hier Wesensteile dieser Dichtung erlebte, hatte die Insel noch diese Physiognomie: heut hat sei eine ganz andere angenommen, zum mindesten während der Sommerzeit. Dampfer tuten, Segel- und Dampfjachten legen in Kloster und Vitte an und die Flugzeuge brausen fast ununterbrochen über Wiesen und Dächer. Schon lange ist man in Hiddensee nicht mehr aus der Welt oder sozusagen am Weltende, vielmehr ist man mitten darin, und der arme einstige Einsiedler von Hiddensee, Alexander Eddenburg, wenn er lebte und es ihm wirklich um Einsiedlertum zu tun wäre, würde sich einen anderen Ort aussuchen müssen. Was mich betrifft: Ich habe auch in der zweiten Periode der halbhundertjährigen Inselgeschichte das meiste miterlebt. Und ich darf sagen, daß ein Stück deutscher Geistesgeschichte damit verbunden ist. Unter den Gästen von Hiddensee haben sich, abgesehen von den schönen und schönsten Frauen, Dichterinnen, Dichter, Maler, Bildhauer, Musiker, Schauspieler und sonstige Künstler ohne Zahl befunden. Männer klangvollster Namen auch aus allen Gebieten der Wissenschaft. Hiddensee wurde das geistigste aller deutschen Seebäder. Möchte ihm das ins Bewußtsein treten und von dem Eiland festgehalten werden als ein dauernder Ruhm. Möge sich die schlichte Anmut seines Wesens und seiner Linien auf alle seine Bewohner und Gäste übertragen und einen Ausdruck seiner altehrwürdigen Fischer- und Schifferbevölkerung seelenwäscherisch weiter wahrmachen; denn wie Goethe sich aufnotierte: 'Liebes gewaschenes Seelchen' ist ein Ausdruck der Fischer von Hiddensee. So, als liebe gewaschne und geläuterte Seelchen, mögen die Badegäste Hiddensees immer aus den Fluten der Ostsee auftauchen und dankbar heimreisen."

Die Freundschaft mit dem Dichter bedeutete zugleich die Bekanntschaft mit einer großen Zahl namhafter Persönlichkeiten, die sich bei Hauptmann trafen. Einen Eindruck von den Geselligkeiten bei Hauptmann vermittelt ein Brief3 von Margarete Hauptmann an Max Pinkus - Urbild des Geheimrat Clausen in dem Drama "Vor Sonnenuntergang" - vom 27. August 1927:

"Der Betrieb auf diesem einsamen (!) Eiland war fast zu groß. Gesellschaften von zwölf bis sechzehn Personen waren keine Seltenheit, Kunst, Politik, Wissenschaft waren vertreten. Ich nenne nur einige Namen: Der Bildhauer Max Kruse auf seiner Burg. Geheimrat S. Saenger (der frühere Gesandte in der Tschechoslowakei und Mitarbeiter der Fischer'schen "Neuen Rundschau"), seine Gattin Frau Saenger-Sethe (einstmals sehr geschätzte Geigenvirtuosin, Belgierin) in ihrem hübschen Häuschen, der blonde Friese und Generalsuperintendenten- Sohn Dr. med. Thalheim aus Berlin, auch hier ansässig, der Chirurg Dr. Peter Schmidt aus Berlin (der erste Steinach- Operateur in Deutschland) mit seiner schönen, neuseeländischen Frau, Geh.-Rat Eisenlohr (vortragender Legationsrat im Auswärtigen Amt), Der Cellist Professor Wille, der meisterliche Lautenschläger und Sänger Dr. Peter Bach, George Sylvester Viereck [amerikanischer Dichter deutscher Sprache], André Germain, Sigmund Feldmann, Attaché von Putlitz [Verfasser des bekannten Buches "Unterwegs nach Deutschland"], Dr. Alexander Katz, Görlitz, Regierungspräsident Dr. Haußmann, Stralsund, Landrat Kogge, Greifswald, dazu der hiesige Pastor und Keilschriftgelehrte Gustavs, der junge Arzt aus Vitte [Dr. Laible] mit seiner halbjapanischen Frau, Graf Coudenhove-Kalergie [Begründer der kosmopolitischen Paneuropa-Bewegung] und Ida Roland..."

Im Sommer 1924 lernte Großvater Thomas Mann bei Hauptmann kennen. Beide Dichter wohnten in der Hotelpension "Haus am Meer". Hauptmann wohnte gewohnheitsgemäß im ersten Stock, während Thomas Mann mit seiner Familie im Stockwerk darüber Quartier genommen hatte. Großvater erlebte beide in der Wohnung von Hauptmann. Auf meine Frage, wie denn das Verhältnis zwischen den beiden so bedeutenden Literaten nun gewesen sei, antwortete er kurz: "Ach, das war nicht doll." Auch lernte er Carl Zuckmayer kennen, dessen Frau noch vor der Ehe mit ihm im Pfarrhaus zu Gast war. Im Sommer 1932 machte er während eines Schwedenaufenthaltes einen Besuch bei Selma Lagerlöf, zu dem ihn Hauptmann veranlaßt hatte, indem er ihm einen Brief für sie mitgab. Aber nicht nur in Hauptmanns Bekannten- und Freundeskreis ist mein Großvater zu finden, sondern auch in Hauptmanns Werk. Er erzählte zwar immer, Hauptmann habe einmal gesagt, er wolle später ein Drama schreiben, in dem er vorkomme, dieses Drama sei jedoch nicht geschrieben worden. Möglicherweise hatte Hauptmann das Drama "Der Flieger" gemeint, das auf Hiddensee spielt und den Pastor im Personenverzeichnis enthält. Dieses Drama ist jedoch Fragment geblieben. Dafür tritt er uns aber im epischen Werk unverkennbar entgegen, nämlich in dem Romanfragment4 "Der neue Chrostophorus", ein Bildungsroman, in dem es neben allgemeinen kulturphilosophischen Gesprächen um die Erziehung des Knaben Erdmann geht, der beim Pastor Pavel, der dritten Hauptfigur neben Christophorus und Erdmann selber, im ländlichen Pfarrhaus aufwächst.

Pater Christophorus ist ein unverhülltes Selbstporträt Hauptmanns. Das Urbild für den Pastor Pavel erkannte Gustav Erdmann, der Herausgeber des 1976 im Union-Verlag Berlin erschienenen Romanfragments, in meinem Großvater. Was zunächst Vermutung war, wurde durch die Veröffentlichung der Paralipomena zu diesem Werk in der Centenarausgabe bestätigt, denn dort heißt es über Pavel5:

"Er besaß den Titel Lizentiat, da er als einer der bedeutendsten Kenner der Keilschrift sich einen Namen gemacht hatte."

Dieser Textabschnitt ist von Hauptmann aus dem Werk herausgenommen worden, was er mit allzu deutlichen Hinweisen auf die Vorbilder, die in der Entstehungsphase hineinkommen, meist tat. Auch der Name "Pavel" steht in Beziehung zu seinem Urbild. Aus "Pastor Gustavs", wie Großvater allgemein genannt wurde, ist aus den ersten und letzten beiden Buchstaben der Name "Pavs" entstanden, der in den gebräuchlichen Namen "Pavel" abgewandelt wurde. Hauptmann hat gelegentlich die Namen seiner Gestalten in dieser oder anderer Weise aus den Namen der Vorbilder abgeleitet6. Die folgenden Passagen aus den Gesprächen zwischen Christophorus und Pavel können als Charakterisierung meines Großvater gelten7:

"Auch Pastor Pavels Kenntnisse gingen über den Rahmen seiner protestantischen Theologie hinaus. Daß er Augustinus kannte, ist selbstvertändlich. Aber er hatte sich nach Kräften auch in die anderen Kirchenväter vertieft und kannte auch Areopagitas Ideen über die himmlische Hierarchie. 'Ja', sagte er, 'den Versuch, eine himmlische Heilsordnung festzulegen, den Aeropagita macht, kenne ich. Er konstruiert neben der an sich schon hinreichend mystischen Theologie eine mystica theologica, die eine mystische Vereinigung mit Gott für möglich hält, in der die Seele aller sündigen und verstandesmäßigen Tätigkeit sich entäußert, um in das unaussprechliche Dunkel der Gottheit einzutreten. Nun, ich habe wie Doktor Martin Luther der Vernunft abgesagt und ganz einfach - das ist alles: ich glaube an Gott!'"

Und an anderer Stelle sagt Pavel8:

"Ich bin Protestant, der mit Luther die Wohltat des Glaubens schätzt, weshalb ich, was die Evangelien uns vom Geborenwerden, Leben, Leiden, Sterben und Wiederauferstehen des Heilands sagen, schlichthin für Wahrheit nehme und wahrhaft glaube. Einen Mythos als Mythos nehmen befriedigt nicht. Mein fester Glaube aber beglückt."

Auch die folgenden etwas unorthodoxen Äußerungen Pavels können für sein Vorbild stehen9:

"Der Katholizismus kennt noch das Weihwasser. In Kevelaer am Niederrhein, wo ich gewesen bin, ist ein kirchlicher Jahrmarkt, und was man auf ihm ersteht und nach Hause mitnimmt, wird durch den Priester geweiht. Es ist das alte übernommene Prinzip aus einer Welt, die weder als Jammertal beklagt noch als durch und durch gottlos verachtet war. Um kurz zu sein, es handelt sich darum, die Natur nicht allenthalben zu entweihen, sondern zu weihen - sie nicht zu entheiligen, sondern zu heiligen."

Der Pater warf ein: "Das ist der Punkt!"

"Um etwas weihen zu können, muß man dies Etwas als göttlich empfinden", fuhr der Pastor fort. "Tiefe Ehrfurch und eine Ahnung von höchster Schönheit wird vorausgehen. Wir wissen, daß hohe Kunst diese Schönheit in der Natur empfunden und gestaltet hat. Wenn ich gewisse Marmorbilder der Griechen sehe, wie etwa die Giebelfelder des Apollontempels in Olympia - ich leugne es nicht - so sehe ich Götter. Ich sehe sie in der Art, daß gar nichts anderes sein kann, als daß sie sind. So geht es mir vor der Pieta des Michelangelo in der Peterskirche. Die große Gottesmutter hält auf ihrem Schoß ihren toten Sohn. Der Tod Gottes, den sie beweint, ist vielleicht bitterer als der menschliche - wie ihr Mutterschmerz unendlich viel größer sein muß; denn das ist das Menschennahe der Götter, daß sie körperlich, daß sie fühlend und wie Menschen dem Schicksal unterworfen sind. Sie sind ähnlich wie Blumen, Bäume, diese Früchte und alles Lebendige aus der Natur herausgeboren, zu der auch der Sternenhimmel gehört, darin die Götter besonders heimisch sind, von dem sie zu uns herab- und zu dem sie in freiem Göttervermögen wieder hinaufsteigen. Ich habe das Wort Genuß früher nicht gut vertragen, aber geheiligt halte ich es sehr hoch: irgendwie ist die Schönheit sein Objekt und damit ebenso irgendwie die Anbetung. Ich habe gesprochen. Und nun, Pater Christoph, denunzieren Sie mich dem Oberkirchenrat!"

Zu bemerken wäre hier, daß Hauptmann nie in der Gegend von Kevelaer gewesen ist. Dagegen ist es durchaus möglich, daß Großvater während seiner Hilfspredigerzeit in Westfalen einmal in dem sechzig Kilometer westlich von Gelsenkirchen an der holländischen Grenze gelegenen Kevelaer geweilt hat. Schließlich seien noch die folgenden Äußerungen Pavels aus einem Gespräch mit Christophorus wiedergegeben, die mir besonders charakteristisch zu sein scheinen10:

"Sie verführen mich in Gebiete, Pater, für die meine schlichte Natur keine Eignung besitzt. Es scheint mir Zeit, daß ich an den warmen Herd meines Pastorhauses zurückkehre. Mag in ihm eine Begrenzung sein, die dem Grenzenlosen im Menschen eigen ist, so eignet sich diese eben für mich. Reden Sie trotzdem weiter, Pater; ich kehre sicher dahin zurück. Schon als Kind habe ich mich im Geiste machmal aufgemacht, um den Rand der Welt zu erreichen. Das unvorstellbare Nichts wollte ich mir vorstellen, habe es aber nur zu einem Blick in einen schwindel- und grausenerregenden Abgrund gebracht. Ich kam von solchen Versuchen ab und habe, in den Mantel des Kinderglaubens gehüllt - wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, sagt Jesus, so blüht euch kein Himmelreich -, meine Jahre still und behaglich gelebt. Ich will diesen Mantel nicht zerreißen und vor allem den der Gewohnheit nicht. Kann ich mich auch als Denker mit Ihnen nicht messen, so habe ich doch den nicht zu überschätzenden Schutz der Gewohnheit erkannt, die uns ein harmonisches Leben ermöglicht. Sie ist eine instinktive Dosierung der Eindrücke, wie sie dem Einzelnen gemäß und von Vorteil ist. Paradox oder nicht: dem Sehen muß eine Blindheit, dem Hören ein Taubheit zur Seite stehen, wenn die Sinne ihren Träger nicht vernichten sollen. So schätze ich auch neben dem Wissen die uns unwiderruflich anhaftende Unwissenheit: sie ist, wie das Wissen, aufbauend." "Wir sind uns hierin wesentlich einig, Herr Pastor", sagte der Pater. In diesem Augenblick aber wurden die weißen Berge taghell durch einen Blitz erleuchtet, dem ein gewaltiger Donner nachfolgte. Ruhig setzte der Pater die Rede fort: "Eine Art Blitzableiter zu haben und sonstigen Schutz vor den nicht immer menschenfreundlichen Mächten der Natur, werden Sie doch nicht ablehnen. Einem Quietismus dieser Art diene ich jedenfalls nicht. Ja, ich rate Ihnen nicht übel, wenn ich Ihnen vorschlage, meinen weitschweifenden Phantasien noch ein wenig Gehör zu geben. Irgendein Weltbild, das über Kachelofen und Tabakspfeife hinausgeht, brauchen wir. Sie haben sich eines erarbeitet, und jeder Mensch hat das gleiche getan von Kindheit an. An einem Punkt initiiert sich diese Wissenschaft. Sie schreitet von Staunen zu Staunen, von Wunder zu Wunder. Wir kommen aus Wundern nicht heraus. Die Linse, die in den Makrokosmos führt, enthüllt mehr und mehr auch den Mikrokosmos. Und Chemie, Physik und Biologie arbeiten ineinander und miteinander. Ich brauche Ihnen gewiß nicht zu sagen, was technische Fortschritte sind. Die technischen Wunder überschreiten beinahe jedes Maß und übertreffen bei weitem alles, was menschlicher Wille und menschliche Hoffnung je erwartet haben. Und überall ist das Feuer im Spiele; mehr und mehr offenbart sich in ihm die allenthalben gebundene und geknebelte Gedankenkraft. Da gibt es zum Beispiel ein Uranatom; wenn es von einem anderen getroffen und aufgespalten wird, entwickelt es mächtige Energien. Sofern rapide Summierungen ein Uranoxydpulver zu einem Kubikmeter vereinen, entwickelt es in weniger als dem hundertsten Teil einer Sekunde Energie, die ausreicht, um ein Gewicht von einer Milliarde Tonnen siebenundzwanzig Kilometer hoch zu heben. Seine Explosion könnte unserem Planeten zu einer gefährlichen Katastrophe werden. Das wäre die Tücke der Giganten, die Rache der Giganten, der Sieg der Giganten! Und es würde klar, weshalb Zeus den Freund des Menschen, den Prometheus, so grimmig haßte und verfolgte und die Menschen nur widerwillig bestehen ließ. Denn ein solcher Ausgang brächte ihm und seiner Ordnung, gar nicht von den Menschen zu reden, den Untergang." "Und so gab uns", sagte lächelnd der Pastor, "der Kronide Zeus, wie Sie meinen, einen Wink?" "Vielleicht", war die Antwort. "Und hoffentlich kommt er mit seiner Aigis und seinen Blitzen gegen die Giganten auf! Gott sei Dank gibt es außer ihm andere blitzende Götter: Poseidon blitzt, Pan und Hera führen den Blitz in der Faust. Hoffen wir, da wir schon bei den griechischen Göttern sind, im noch immer lebendigen Krieg wider die Titanen auf den Blitz in der Hand von Pallas Athene! Auf die Vorsicht, auf die Voraussicht kommt es hier an, und auch sie Attribut von Pallas Athene." "Nun wohl", sagte Pavel, "auch ich habe nichts gegen den hellen, rettenden Blitz des Gedankens."

Am Ende des hier wiedergegebenen Gespräches kommt Christophorus-Hauptmann auf die Gefahren der Atombombe zu sprechen - eine bemerkenswerte Tatsache, da dieser Teil des Romans bereits 1943 veröffentlicht wurde, als die Kenntnisse über die Uranspaltung und der sich daraus ergebenden katastrophalen Folgen nur wenigen Fachleuten bekannt waren und damals bereits der Geheimhaltung unterlagen11. Jedenfalls hat es diese Fachleute schon überrascht, daß Hauptmann zu damaliger Zeit davon wußte12. Inzwischen ist auch die Quelle ermittelt worden, aus der er seine Kenntnisse hatte: es war der Vortrag von Max Planck über "Sinn und Grenzen der exakten Naturwissenschaft"13, den er im November 1941 vor der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften hielt und 1942 als Heft veröffentlicht wurde. Ein Exemplar dieses Vortrages befindet sich in den nachgelassenen Beständen seiner Bibliothek und weist zahlreiche Lesespuren von Hauptmanns Hand auf. Ob nun der Dichter auch seinem Freunde auf Hiddensee tatsächlich von der Atombombe gesprochen hat, wissen wir nicht. Immerhin ist sein Hiddenseer Freund als Urbild der literarischen Gestalt des Pavel in diese Geschichte verwoben. Die angeführten Zitate sind sicher keine wörtlichen Wiedergaben von Äußerungen meines Großvater. Sie sind zumindest sprachlich überhöht. Hauptmann hat seine Vorbilder nicht so genau porträtiert, wie Thomas Mann es getan hat - er hat auch Züge mehrerer Vorbilder in einer Gestalt vereinigt; überdies dürfte auch Hauptmannsches Gedankengut in Pavels Worten enthalten sein. In den Grundzügen ist aber das Urbild im Pavel zu erkennen. Daß Großvater in das Werk Hauptmanns eingegangen ist, schien ihm offenbar gar nicht so recht gewesen zu sein, denn er hatte sich nie darüber geäußert, obwohl er es wußte. Gustav Erdmann hatte ihn während seiner Arbeit an der Dissertation über Gerhart Hauptmann darauf angesprochen, Großvater hat sich aber nicht bestimmt darüber geäußert. Ich äußerste selber einmal den Wunsch, den Neuen Christophorus zu lesen, aber er riet von der Lektüre ab und empfahl mir eine Reihe früher Dramen.

Quellen:

  1. Arnold Gustavs: Gerhart Hauptmann und Hiddensee, mit einem Nachwort herausgegeben von Gustav Erdmann. Schwerin 1962, S. 58.
  2. Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, © 1974 Propyläen Verlag in der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin, Centenar-Ausgabe zum 100. Geburtstag des Dichters, fortan CA, Bd XI, nachgelassene Werke, Fragmente, S. 1139. Die Wiedergabe von Textauszügen aus Gerhart Hauptmanns Werken im Internet erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.
  3. Margarete Hauptmann: Brief vom 27.8.1927 an Max Pinkus. Zitiert nach Gustav Erdmann: Gerhart Hauptmann und die Kruses. In Greifswald-Stralsunder Jahrbuch Bd. 2 (1962) S. 243. (Anmerkungen in eckigen Klammern von Gustav Erdmann)
  4. Gerhart Hauptmann: Der neue Christophorus, hrsg. von Gustav Erdmann, 1976 Union Verlag Berlin, S.443
  5. CA X, 363
  6. Arne Gustavs: Ortsangaben und Personen im Dramenfragment "Der Flieger". In: Schlesien, 3/1992, Jhrg. XXXVII. Organ der Freunde und Förderer der Stiftung Kulturwerk Schlesien e.V.
  7. CA X, 763
  8. CA X, 746
  9. CA X, 770/771
  10. CA X, 780
  11. Arne Gustavs: Gerhart Hauptmann und die Atombombe. In: Physikalische Blätter, Jhg. 19, Heft 12 (1963), S. 554- 556, 583
  12. Ernst Brüche: Was wußte man 1943/44 in Deutschland von der Atombombe? Ebenda, Jhg. 20, Heft 5 (1964), S. 220-225
  13. Max Planck: Sinn und Grenzen der exakten Naturwissenschaft, Leipzig 1942